Richtlinie für den Europäischen Mindestlohn

 23. Juni 2022

Am 6.6.2022 wurde die vorläufige Einigung zwischen Europäischem Parlament, Kommission und Rat für eine Richtlinie zum Europäischen Mindestlohn erzielt. Meine Sozialdemokratische Gewerkschafts-Kollegin Agnes Jongerius hat diese für das Europäische Parlament federführend verhandelt.

 

Warum brauchen wir die Richtlinie für den Europäischen Mindestlohn?

 

Viele Erwerbstätige in der EU, oft auch Systemerhalter:innen wie sichtbar wurde während der Corona-Krise, sind armutsgefährdet. Aktuell stehen wir einer hohen Inflation gegenüber: Die Preise für Lebenshaltungskosten steigen, die Löhne bleiben gleich. Es ist essentiell, dass arbeitende Menschen gut von ihrem Einkommen leben und auch am Sozialleben teilnehmen können. 2018 hatten 70% der Mindestlohn-Verdiener:innen in der EU am Ende des Monats nicht mehr genug Geld, um ihre Rechnungen zu bezahlen.

Auch sind 60 % der Mindestlohnverdiener:innen Frauen, deren Situation durch einen fairen Mindestlohn am Europäischen Arbeitsmarkt deutlich verbessert wird. Somit wird auch die Schließung der Lohnschere zwischen Frau und Mann durch diese Richtlinie adressiert.

Neben der Bekämpfung der Erwerbsarmut und der Schließung der Lohnschere hat die Richtlinie als festgeschriebenes Ziel die „upward social convergence“, also ein nach oben gerichteter sozialer Ausgleich.

 

 

Was genau steht in der Richtlinie?

Die Richtlinie zum Europäischen Mindestlohn ist in zwei Säulen aufgeteilt.

Die erste Säule legt menschenwürdige Standards für nationale gesetzliche Mindestlöhne fest: Mit einem gesetzlichen Mindestlohn müssen die Arbeitnehmer:innen ein angemessenes Leben führen können. Die „Angemessenheit“ wird durch die Kaufkraft bestimmt, wobei die Lebenshaltungskosten sowie die allgemeine Wachstumsrate und die relative Lohnstruktur in dem jeweiligen EU-Land berücksichtigt werden.

Geringverdiener:innen sollen künftig mindestens 50% des Durchschnittslohns oder 60% des Medianlohns erhalten. Durch diese Anlehnung werden mit dem allgemeinen Lohnniveau auch die gesetzlichen Mindestlöhne regelmäßig angehoben, was dafür sorgt, die Kaufkraft der Menschen zu erhalten. 

 

Die zweite Säule der Richtlinie zielt darauf ab, Arbeitnehmer:innen und Gewerkschaften bei Kollektivverhandlungen zu stärken. Ziel ist es, dass mehr Arbeitnehmer:innen den Schutz eines Kollektivvertrags erhalten. Liegt die tarifvertragliche Deckungsrate in einem Mitgliedstaat unter 80%, ist ein nationaler Aktionsplan erforderlich, der alle 10 Jahre überarbeitet werden muss. Damit soll die Zahl der geschützten Arbeitnehmer:innen schrittweise erhöht werden. Besonders begrüßenswert ist, dass die EU-Länder erstmals verpflichtet werden, auch präventiv zu handeln, wenn Arbeitnehmer:innen oder Gewerkschaftsvertreter:innen von Arbeitgeber:innen diskriminiert, unter Druck gesetzt oder bedroht werden, wenn sie sich zusammenschließen bzw. für ihre Rechte eintreten wollen. Das Wort „Union-Busting“ wurde in diesem Zusammenhang zum ersten Mal in einer Richtlinie erwähnt. Es wird auch erstmals klargestellt, dass Kollektivvertragsverhandlungen ein Vorrecht der Gewerkschaften sind.

 

Was bringt die Richtlinie (nicht)?

Wie oft irrtümlicherweise falsch verstanden, führt diese Richtlinie keinen EU-weiten einheitlichen Mindestlohn ein, sondern schafft den Rahmen für 27 nationale Mindestlöhne, jeweils an das Lohnniveau, die Lebenshaltungskosten und die Kaufkraft in den jeweiligen Staaten angelehnt. Die Mindestlöhne müssen alle 2 Jahre neu bewertet werden. Die Mitgliedstaaten können dabei automatische Indexierungsmechanismen verwenden, solange sie nicht zu einer Senkung der gesetzlichen Mindestlöhne (50%/60%-Anlehnung) führen.

 

Darüber hinaus werden Staaten, die ein Kollektivvertragssystem haben nicht gezwungen, einen einheitlichen gesetzlichen Mindestlohn einzuführen. In Österreich sind beispielsweise 98% der Arbeitnehmer:innen durch Kollektivverträge abgesichert. Neben Österreich betrifft das Dänemark, Finnland, Italien, Schweden und Zypern, deren System damit nicht nur gesichert, sondern vor allem auch gestärkt wird.

 

Was aufgrund der Bestimmungen der EU-Verträge nicht möglich war, mit der Richtlinie zu regeln, war ein Verbot von Abweichungen und Abzügen vom Mindestlohn einzuführen, weil diese nur auf nationaler Ebene eingeführt werden können. Es wurde aber versucht klarzustellen, dass dies auf nationalstaatlicher Ebene zu unterlassen ist. Es wurde unterstrichen, dass es darüber hinaus ein großes Risiko gibt, dass diese Abzüge (bspw. für Sachleistungen wie zur Verfügung gestellte Unterkunft oder Arbeitsausrüstung) sehr schnell unverhältnismäßig sein können – zum Nachteil der Beschäftigten. Diese mögliche Lücke zum Mindestlohn muss nun auf Ebene der Mitgliedsstaaten möglichst klein gehalten werden.

 

Was sind die nächsten Schritte?

In der Ratssitzung für Beschäftigung, Sozialpolitik, Gesundheit und Verbraucher:innenschutz (EPSCO) am 16.6.2022 hat der Rat der Vereinbarung zugestimmt. Der Beschäftigungsausschuss im Europäischen Parlament visiert eine Abstimmung im Beschäftigungsausschuss Ende Juni an und eine Abstimmung im Plenum im September 2022.

Nach Zustimmung der beiden Institutionen haben die EU-Mitgliedsstaaten zwei Jahre Zeit, die Richtlinie in nationales Recht zu übertragen.

Insgesamt würden 25,3 Millionen Arbeitnehmer:innen von dieser neuen EU-Richtlinie profitieren.